Das kleine m und das Buchstabenhaus

Wann immer das kleine m auf seinem Schulweg an der Buchhandlung von Herrn P vorbei ging, blieb es am Schaufenster stehen. Das kleine m betrachtete die Auslagen und bewunderte voller Erfurcht die Schönheit der Bücher. Manchmal traute sich das kleine m auch in den Buchladen hineinzugehen, um die Bücher mit den vielen Buchstaben aufzuschlagen, den Klang der Wörter in sich aufzunehmen. m war dann immer ganz berauscht. Völlig von Sinnen. Wie gerne wäre m auch in einem der Bücher gewesen. m wollte auch eines Tages ein großer Buchstabe werden, um in die Bücher zu kommen. Aber zu Hause hörte m immer nur, dass es noch nicht an der Zeit wäre. Zuerst müsse m lernen, wie sich ein großer Buchstabe benimmt. m war manchmal sehr vorwitzig in der Buchstabenschule, so dass die Lehrerin Frau Q das kleine m oft ermahnen musste, Rücksicht auf die anderen Buchstaben zu nehmen, schließlich würde nicht jedes Wort ein kleines m brauchen.
m war dann immer sehr traurig. Doch in der Buchhandlung von Herrn P hatte m immer gute Laune und freute sich.
Zuhause bei m gab es keine Bücher. Bücher waren teuer. Für Bücher hatten m`s Eltern kein Geld. Lesen war was für die höher gestellten Buchstaben, wie m`s Vater G immer sagte. Für Taugenichte, die nichts besseres zu tun hatten, als den lieben langen Tag faul da zu sitzen und ihre Nase in Bücher zu stecken. m´s Vater G ging jeden Tag zur Arbeit. Er war seit Jahren das grosse G der Schreibmaschine von Frau K Zwar hatte er geregelte Arbeitszeiten und kam pünktlich nach acht Stunden nach Hause, denn so lange brauchte ihn Frau K jeden Tag. Doch tat ihm nach soviel Schreibmachinenarbeit der Rücken weh, so dass m´s Mutter ihm immer den Rücken einreiben musste.

m war meistens alleine nach der Schule.
Das Buchhändlerehepaar P mochten m sehr gerne und verstanden ihre Liebe zu den Büchern und zu den bedeutenden Buchstaben. Herr P kannte m´s Vater G und
wusste , dass dieser nichts für Bücher übrig hatte. Daher hatte er sich gemeinsam mit seiner Frau für das kleine m etwas ganz besonderes ausgedacht.
Sie hatten im hinteren Raum der Buchhandlung einens Leseplatz eingerichtet. Dort konnte m nach Herzenslust in die vielen geliebten Bücher schlüpfen und die anderen Buchstaben kennenlernen. m war überrascht, wieviel kleine m´s in den Büchern waren. Leider durfte m die Bücher nicht mit nach Hause nehmen, daher hatte Herr P m ein Regal frei geräumt, so dass m`s Lieblingsbücher dort ein Zuhause fanden. Wann immer m wollte, konnte es sich dorthin zurückziehen und in die Welt der Wörter eintauchen.
m genoss die Stunden in der Buchhandlung sehr. Da m´s Eltern den ganzen Tag aus dem Haus waren, fiel es nicht auf, wo es den ganzen Nachmittag nach der Buchstabenschule verbrachte. m hatte einen Schlüssel für die Wohnung und konnte somit kommen und gehen wann es wollte. m erledigte die Hausaufgaben immer zu Hause an dem kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer, doch seit kurzem hatte m auch im Buchladen einen eigenen Schreibplatz hinter der kleinen Leseecke, bei den geliebten Büchern.
Fast täglich schrieb das kleine m auf, was es in den Büchern mit den anderen Buchstaben erlebte. Das kleine m war schlau und wurde immer schlauer durch die tägliche Begegnung mit den anderen Staben, Große und kleine.
Es war Donnerstagnachmittag, am 22. Juli, als Herr P mit einem ganz neuen Buch vom Buchstabenverlag in die Buchhandlung kam. Der Titel des Buches war, ” Das Buchstabenhaus”. Beim Anblick dieses Buches wurde m ganz warm ums kleine Buchstabenherz und es konnte nicht erwarten ins Buch zu schlüpfen und all die anderen Buchstaben zu begrüßen. Unglaublich wie gross das Buchstabenhaus war. Da passten mehr Buchstaben rein, als in den Büchern, die m jemals gesehen hatte. Wunderschöne Räume. alles bunt gestrichen. m traf Große und kleine, bunte Buchstaben. Und diesmal konnte m sich auch Bilder ansehen, die von bunten Buchstaben umringt waren. Viele kleine Buchstaben purzelten in bunten Farben übers Papier und lachten und freuten sich. m war nie zuvor in so einem schönen Buch gewesen. Selbst die großen Buchstaben waren bunt und freuten sich, lachten und waren fröhlich. m wurde eingeladen, im Buchstabenhaus zu übernachten, weil es doch schon recht spät geworden war. Die großen blauen Buchstaben gaben m das kleine gelbe Zimmer auf Seite 15 im Buchstabenhaus. Als m sich auf das Bett setze schaute sie sich im Zimmer um. Es war das Zimmer des kleinen gelb und des Großen Blau. Hier fühlte sich m sehr wohl. Hier im Buchstabenhaus zu wohnen, würde es als kleinen Buchstaben sehr glücklich machen. Kurz vorm einschlafen dachte m noch daran, ob wohl noch ein kleines m gebraucht wurde, und schlief dann müde von den Aufregungen und Erlebnissen des Tages ein.
Als Herr P am nächsten Morgen in seine Buchhandlung kam, sah er, wie das Buchstabenhaus auf dem Regal von m hin und her wackelte. Ganz erschrocken nahm er das Buch und schlug die Seiten auf. Ganz unten auf der rechten Seite der Geschichte vom kleinengelb und vom Großen Blau stand das Wort “m utig”. Das m war leuchtend rot und flackerte. Herr P wusste sofort, dass es das kleine m war. ” Wusste ich doch, dass sich m am liebsten in einem Kinderbuch fühlt. Ob es jemals wieder aus dem Buch kommt?”
Ja, das wusste Herr P. nicht, aber ich kann verraten, dass das kleine m nie wieder aus dem Kinderbuch gekommen ist. Noch nicht mal, um seine Eltern zu besuchen, oder die anderen Bücher. Spät am Abend, wenn Herr P seine Buchhandlung verlässt, um nach Hause zu gehen, hört er ein Lachen und Kichern und ein Rumpumpeln aus der Kinderbuchecke. Er schmunzelt dann und muss an das kleine m denken, das glücklich für immer im Buchstabenhaus lebt!
Copyright by Maartje van Sandemeer
Veröffentlicht 10/2005
Maartje - 26. Mär, 10:46