Kindergeschichten

Samstag, 26. August 2006

Ein Päckchen für Lilly

Lesen

Als ich die Bodenklappe öffnete roch es nach alten Zeitungen, Wolle und Mottenkugeln. Überall hingen Spinnweben und es gab kein Licht.
Ich hatte meine Taschenlampe dabei und entdeckte gerade die alte Truhe, die ganz hinten links in der Ecke stand, als ich die Stimme meiner Mutter hörte:,, Wie lange brauchst du denn da oben noch? Wir wollen gleich Kaffee trinken. Nun komm doch endlich runter, was willst du bloß mit diesem alten Zeug?“
Meine Mutter war verärgert, aber ich wollte lieber auf dem Dachboden in alten Erinnerungen stöbern, als mit den Verwandten am Tisch sitzen und Kuchen essen.

Ich wollte anders Abschied nehmen von meiner Großmutter, die ich so sehr geliebt hatte. Ich wollte alleine sein.

,, Ich komme nicht `runter, ich will hier oben was nachsehen Mams, fangt ohne mich an, ja?“, ich hörte sie noch etwas sagen, verstand es aber nicht mehr, da ich mich zu der alten Truhe durchgekrochen hatte und mein Interesse nur noch dem Inhalt der Truhe galt. Hier mussten sie drin sein, die alten Tagebücher meiner Großmutter. Sie war nicht verschlossen, so dass ich ohne Umstände den schweren Deckel aufmachen konnte. Als ich die vielen Bücher sah, war ich überwältigt. Es roch nach Papier, nach alten Rosen und dem Parfüm meiner Großmutter. Fein säuberlich gebunden und nach Jahreszahlen geordnet lagen sie alle vor mir. Hier war alles versteckt. Das ganze Leben der Familie.

Ich griff in die Truhe und holte das Tagebuch aus dem Jahr 1964.
Es war ein dickes Buch mit festem, schwarzem Ledereinband. Endlich fand ich die Eintragung vom 27.Juli 1964, meinem siebten Geburtstag. Sie hatte sogar meine ewige Fragerei nach dem Päckchen in ihrem Tagebuch eingetragen.
Das Päckchen, was alle hatten und ich auch haben wollte.

Das schönste Geschenk war damals mein erstes Tagebuch, das ich von meiner Großmutter bekam. Ich erinnere mich, dass ich meine erste Eintragung über das „berühmte Päckchen“ schrieb. Ich hörte auf allen Familientreffen ständig etwas über über ein gewisses Päckchen, auch am Telefon redete meine Mutter darüber. Auf die Frage meiner Mutter, was ich mir zum Geburtstag wünsche, sagte ich ihr, dass ich endlich auch eines dieser Päckchen haben wollte, das jeder hatte, außer mir.

Schließlich begann ich nach dem Päckchen zu suchen, da es mir offensichtlich untersagt wurde, es zu bekommen. Ich ließ nicht locker, hartnäckig verfolgte ich nur ein Ziel, mir das Päckchen selbst zu besorgen.
Bei der Erinnerung an meine Nachforschungen musste ich schallend lachen. So bin ich einige Tage vor meinem siebten Geburtstag zum Postamt in unserem Ort gegangen, um nachzufragen, wie lange es denn noch mit meinem Päckchen dauert. Herr Bertram, ein großer dicker Mann mit Glatze, Nickelbrille und einem rotbackigen, schwitzenden Gesicht beugte sich zu mir über den Tresen und meinte:,, Was willst du Lilly, ein Päckchen abholen? Nee, meine Kleine, hier ist für dich nichts abgegeben worden. Wer schickt dir denn das Päckchen? Zum Geburtstag, was meine Kleine ha,ha,ha…!“

,, Ich habe mir das Päckchen zum Geburtstag gewünscht ja, denn ich will endlich auch eins haben. Alle sagen mir immer nur, dass ich es abwarten soll und so. Ich würde es noch früh genug bekommen, sagt Omi immer. Alle sind so ernst und nicken, wenn sie über das Päckchen reden, hat jeder das gleiche Päckchen?“

Ich sah ihn abwartend an. Herr Bertram wurde ernst hinter seinem Posttresen, kraulte sich am Bart, legte den Kopf schief und nickte:,, Lilly, warte mal eben“, meinte er mit ernster Mine und ging zum Telefon.

Ich wartete geduldig und freute mich schon, endlich jemanden gefunden zu haben, der sich um mein Päckchen kümmerte.

Ich sah, wie Herr Bertram kopfschüttelnd telefonierte und sich ein paar Sekunden später vor Lachen seinen Bauch hielt und sich seine Glatze kratzte. Er hatte ein breites Grinsen im Gesicht, als er auf mich zu kam und lachte:,, Lilly, ich habe gerade mit deiner Oma gesprochen, sie kommt gleich und holt dich hier ab. Du kannst also hier auf sie warten. Sie erklärt dir dann alles. Wirst sehen meine Kleine.“ Er lachte immer noch, schüttelte den Kopf , wischte sein Gesicht mit dem Taschentuch ab, dass er sich aus seiner Cordhose gezogen hatte und ging hinüber zu Frau Plutte, die gerade die Post betreten hatte.

Plötzlich wurde die Tür zum Postamt mit einem heftigen Schwung aufgestoßen und meine Großmutter, völlig außer Atem, stand vor mir.

,, Helene, schön dich zu sehen, meine Liebe. Du hättest dich nicht so zu beeilen brauchen, ich hätte mich schon um Lilly gekümmert,“ sagte Herr Bertram freundlich und lachte gutmütig.

Meine Großmutter nahm mich in die Arme und sagte:,, Lilly, was machst du nur für Sachen Kind.“
Sie drehte sich zu Herrn Bertram um:,, Danke Günter, dass du mich angerufen hast. Sie hat sich da was in den Kopf gesetzt…na, du weißt ja, ich habe es dir vorhin versucht zu erzählen…also danke nochmals Günter.“

In der Eisdiele neben dem Postamt kauften wir uns ein Schokoladeneis auf die Hand und gingen die Weserpromenade entlang nach Hause.

,, Omi, ich möchte wirklich wissen, warum ihr alle immer von einem Päckchen redet. Tante Gerda sagte neulich zu Mama, dass wir alle unser Päckchen tragen müssen und Tante Astrid ein besonders schweres hat und sie selbst schuld sei. Warum ist sie denn schuld? Wann kriegt man denn so ein Päckchen?“

Meine Großmutter blickte mich ernst an, als sie mit einem Seufzer sagte:,,Ach ja, das stimmt, Astrid hat wirklich schwer zu tragen“.

Versonnen sah sie aufs Wasser.

Ich ließ ihr keine Ruhe:,, Wieso, wie schwer ist das Päckchen denn, hat sie es selbst abholen müssen, konnte Onkel Paul ihr nicht helfen?“

Meine Großmutter sah ein wenig entnervt aus, als sie sagte:,, Lilly, jetzt hör mir mal zu. Man bekommt das Päckchen nicht mit der Post. Das Leben bürdet uns ein Päckchen auf. Verstehst du? Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Jeder, so wie er eben lebt.“

,, Was muss Tante Astrid schwer tragen? Wenn alle das Päckchen vom Leben kriegen, dann kann es doch bei Tante Astrid nicht so groß sein, sie ist jünger als Mami und Tante Maybritt. Mami hat neulich zu Papa gesagt, die Maybritt ist froh,dass sie nicht so ein schweres Päckchen tragen muss wie Astrid. Also Omi, ich verstehe das alles nicht. Erklär`s mir bitte endlich, Mami sagt immer ich sei noch zu jung und ich würde schon mein Päckchen kriegen, das wär sicher.“

Meine Großmutter lachte und nahm mich wieder in die Arme als sie mit liebevoller Stimme sagte:,, Ach, mein Herzchen, du kennst doch deine Mutter, sie war bestimmt wieder im Stress mit dem Geschäft und allem. Sie hat`s auch nicht einfach. Aber ich fürchte meine Kleine, ich muss es dir wirklich besser erklären, von welchem Päckchen wir immer reden. Weißt du, es ist so eine Redensart. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, das bedeutet, jeder Mensch muss seine Last tragen. Glück und Leid. Das ergeht jedem von uns so. Kannst du dich noch an deinen Hasen Murkel erinnern, den wir aufgezogen hatten und den du so geliebt hast und ihn jeden Tag im Stall besucht und gefüttert hast?
Wie traurig warst du, als Murkel gestorben war.“

Ich protestierte heftig:,, Nein Omi, das stimmt nicht. Papa hat Mami erzählt, dass er genau wüsste, das Opa damals Murkel geschlachtet hat und Murkel nicht einfach so gestorben ist und ihr habt ihn alle aufgegessen zu Ostern, deswegen essen wir doch nichts mehr bei dir und Opa, sagt Papa. Das stimmt doch? Oder nicht?“

Meine Großmutter nickte bestürzt und sagte mit ernstem Gesicht:,, Ja Lilly, das war so. Das war schrecklich für dich damals, ich weiß. Du hast es nicht vergessen. Du musst dir vorstellen, wenn du deinen Kummer den du erlebst in deinem Leben verdrängst, ihn wegschließt, so wie in einem verschnürten Päckchen, dann wird sich die Verschnürung vielleicht irgendwann etwas lockern und ein kleiner Teil des Inhalts kommt hervor. Doch wird der andere Teil immer verpackt bleiben. So drückt das Päckchen schwer auf deinen Schultern und du schleppst es überall mit hin. Es sammelt sich so viel an im Laufe eines Lebens. Die schönen Erlebnisse, die dir Spaß machen und die kummervollen und traurigen Momente.
Man darf natürlich nie vergessen, das Päckchen auch mal auszumisten. Denn wenn man nicht aufpasst wird es zu schwer und man kann es nicht mehr tragen. Dann wird man krank. Aber jetzt Schluss damit Lilly, du bist einfach noch zu jung, dich damit zu beschäftigen.“

Als ich drei Tage später mein erstes Tagebuch von ihr bekam, schrieb ich auf die erste Seite, was ich über ein“Kummer-und Freudepäckchen“ wusste. Ich unterteilte in Kummer- und Freudeseiten. Ich packte es in einen braunen Schuhkarton und band eine Schleife aus dickem Bindfaden darum, so dass es aussah wie ein Päckchen.
Ich bewahrte es immer unter meinem Bett auf. Wenn ich etwas eintragen wollte, musste ich das Päckchen erst öffnen, um an mein Tagebuch zu kommen.

So hatte ich schließlich mein Päckchen.
Copyright by Maartje van Sandemeer

Sonntag, 26. März 2006

Das kleine m und das Buchstabenhaus

Lesen

Wann immer das kleine m auf seinem Schulweg an der Buchhandlung von Herrn P vorbei ging, blieb es am Schaufenster stehen. Das kleine m betrachtete die Auslagen und bewunderte voller Erfurcht die Schönheit der Bücher. Manchmal traute sich das kleine m auch in den Buchladen hineinzugehen, um die Bücher mit den vielen Buchstaben aufzuschlagen, den Klang der Wörter in sich aufzunehmen. m war dann immer ganz berauscht. Völlig von Sinnen. Wie gerne wäre m auch in einem der Bücher gewesen. m wollte auch eines Tages ein großer Buchstabe werden, um in die Bücher zu kommen. Aber zu Hause hörte m immer nur, dass es noch nicht an der Zeit wäre. Zuerst müsse m lernen, wie sich ein großer Buchstabe benimmt. m war manchmal sehr vorwitzig in der Buchstabenschule, so dass die Lehrerin Frau Q das kleine m oft ermahnen musste, Rücksicht auf die anderen Buchstaben zu nehmen, schließlich würde nicht jedes Wort ein kleines m brauchen.
m war dann immer sehr traurig. Doch in der Buchhandlung von Herrn P hatte m immer gute Laune und freute sich.

Zuhause bei m gab es keine Bücher. Bücher waren teuer. Für Bücher hatten m`s Eltern kein Geld. Lesen war was für die höher gestellten Buchstaben, wie m`s Vater G immer sagte. Für Taugenichte, die nichts besseres zu tun hatten, als den lieben langen Tag faul da zu sitzen und ihre Nase in Bücher zu stecken. m´s Vater G ging jeden Tag zur Arbeit. Er war seit Jahren das grosse G der Schreibmaschine von Frau K Zwar hatte er geregelte Arbeitszeiten und kam pünktlich nach acht Stunden nach Hause, denn so lange brauchte ihn Frau K jeden Tag. Doch tat ihm nach soviel Schreibmachinenarbeit der Rücken weh, so dass m´s Mutter ihm immer den Rücken einreiben musste.
Das-kleine-m
m war meistens alleine nach der Schule.
Das Buchhändlerehepaar P mochten m sehr gerne und verstanden ihre Liebe zu den Büchern und zu den bedeutenden Buchstaben. Herr P kannte m´s Vater G und
wusste , dass dieser nichts für Bücher übrig hatte. Daher hatte er sich gemeinsam mit seiner Frau für das kleine m etwas ganz besonderes ausgedacht.
Sie hatten im hinteren Raum der Buchhandlung einens Leseplatz eingerichtet. Dort konnte m nach Herzenslust in die vielen geliebten Bücher schlüpfen und die anderen Buchstaben kennenlernen. m war überrascht, wieviel kleine m´s in den Büchern waren. Leider durfte m die Bücher nicht mit nach Hause nehmen, daher hatte Herr P m ein Regal frei geräumt, so dass m`s Lieblingsbücher dort ein Zuhause fanden. Wann immer m wollte, konnte es sich dorthin zurückziehen und in die Welt der Wörter eintauchen.

m genoss die Stunden in der Buchhandlung sehr. Da m´s Eltern den ganzen Tag aus dem Haus waren, fiel es nicht auf, wo es den ganzen Nachmittag nach der Buchstabenschule verbrachte. m hatte einen Schlüssel für die Wohnung und konnte somit kommen und gehen wann es wollte. m erledigte die Hausaufgaben immer zu Hause an dem kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer, doch seit kurzem hatte m auch im Buchladen einen eigenen Schreibplatz hinter der kleinen Leseecke, bei den geliebten Büchern.
Fast täglich schrieb das kleine m auf, was es in den Büchern mit den anderen Buchstaben erlebte. Das kleine m war schlau und wurde immer schlauer durch die tägliche Begegnung mit den anderen Staben, Große und kleine.

Es war Donnerstagnachmittag, am 22. Juli, als Herr P mit einem ganz neuen Buch vom Buchstabenverlag in die Buchhandlung kam. Der Titel des Buches war, ” Das Buchstabenhaus”. Beim Anblick dieses Buches wurde m ganz warm ums kleine Buchstabenherz und es konnte nicht erwarten ins Buch zu schlüpfen und all die anderen Buchstaben zu begrüßen. Unglaublich wie gross das Buchstabenhaus war. Da passten mehr Buchstaben rein, als in den Büchern, die m jemals gesehen hatte. Wunderschöne Räume. alles bunt gestrichen. m traf Große und kleine, bunte Buchstaben. Und diesmal konnte m sich auch Bilder ansehen, die von bunten Buchstaben umringt waren. Viele kleine Buchstaben purzelten in bunten Farben übers Papier und lachten und freuten sich. m war nie zuvor in so einem schönen Buch gewesen. Selbst die großen Buchstaben waren bunt und freuten sich, lachten und waren fröhlich. m wurde eingeladen, im Buchstabenhaus zu übernachten, weil es doch schon recht spät geworden war. Die großen blauen Buchstaben gaben m das kleine gelbe Zimmer auf Seite 15 im Buchstabenhaus. Als m sich auf das Bett setze schaute sie sich im Zimmer um. Es war das Zimmer des kleinen gelb und des Großen Blau. Hier fühlte sich m sehr wohl. Hier im Buchstabenhaus zu wohnen, würde es als kleinen Buchstaben sehr glücklich machen. Kurz vorm einschlafen dachte m noch daran, ob wohl noch ein kleines m gebraucht wurde, und schlief dann müde von den Aufregungen und Erlebnissen des Tages ein.

Als Herr P am nächsten Morgen in seine Buchhandlung kam, sah er, wie das Buchstabenhaus auf dem Regal von m hin und her wackelte. Ganz erschrocken nahm er das Buch und schlug die Seiten auf. Ganz unten auf der rechten Seite der Geschichte vom kleinengelb und vom Großen Blau stand das Wort “m utig”. Das m war leuchtend rot und flackerte. Herr P wusste sofort, dass es das kleine m war. ” Wusste ich doch, dass sich m am liebsten in einem Kinderbuch fühlt. Ob es jemals wieder aus dem Buch kommt?”

Ja, das wusste Herr P. nicht, aber ich kann verraten, dass das kleine m nie wieder aus dem Kinderbuch gekommen ist. Noch nicht mal, um seine Eltern zu besuchen, oder die anderen Bücher. Spät am Abend, wenn Herr P seine Buchhandlung verlässt, um nach Hause zu gehen, hört er ein Lachen und Kichern und ein Rumpumpeln aus der Kinderbuchecke. Er schmunzelt dann und muss an das kleine m denken, das glücklich für immer im Buchstabenhaus lebt!

Copyright by Maartje van Sandemeer

Veröffentlicht 10/2005

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